Die unbekannten Schwestern Pompejis

Die Ausgrabungsstätte Pietrabbondante liegt malerisch auf einem Hochplateau - (c) Gabi Vögele

Die Überreste des antiken Pompeji kennt jeder kulturinteressierte Besucher Süditaliens. Die Ruinen der beim Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr. verschütteten Stadt durchstreifen Jahr für Jahr Millionen Besucher.

Nicht weit davon entfernt, im bergigen Hinterland von Neapel, warten dagegen noch einige bedeutende historische Stätten aus derselben Zeit darauf entdeckt zu werden. Ganz ohne touristisches Gedränge kann man in den archäologischen Stätten von Pietrabbondante und Sepino oder in Benevento auf den Spuren des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Volkes der Samniten wandeln, die einst auch in Pompeji ansässig waren.

Ehe sie nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen von den Römern besiegt und dem römischen Reich einverleibt wurden, prägten die Samniten die Region des südlichen Apennin im heutigen Kampanien und Molise. Dass das Klischee der kriegerischen, unkultivierten Hinterwäldler, das die Römer über die Samniten verbreiteten, nicht stimmt, beweist die Ausgrabungsstätte Pietrabbondante, die malerisch auf einem Hochplateau auf rund 1.000 Metern Höhe in der Region Molise liegt. Hier war das politische Zentrum und bedeutendste Heiligtum der Samniten, erklärt die Archäologin Enza Zullo bei einer Führung über das sieben Hektar große Ausgrabungsgelände. Ein großer Tempel und ein Amphitheater aus der Zeit um 100 vor Christus bilden das Zentrum des antiken Pietrabbondante. Die steinernen Sitzstufen des Theaters sind noch sehr gut erhalten, sie bieten einen phantastischen Weitblick in die grüne Landschaft. Zwischen den antiken Mauern blühen im Frühjahr Wiesen und Obstbäume. Die Idylle teilt man nur mit vereinzelten Besuchern.

Über blühende Wiesen wandert man auch zwischen den Überresten der antiken Stadt Saepinum, dem heutigen Sepino in der Region Molise. Die Siedlung gründeten die Samniten, die in der Berg- und Hügellandschaft des Apennin Wanderweidewirtschaft mit Schafen und Ziegen betrieben, an einer wichtigen Route ihres Viehtriebs, auf der das Vieh zweimal im Jahr zu den saisonalen Weideplätzen getrieben wurde, erklärt Enrico Rinaldi, der Direktor des archäologischen Parks. 293 vor Christus eroberten die Römer die Stadt im 3. Samnitenkrieg und bauten sie nach römischem Muster aus: Gepflasterte Hauptstraßen mit Ladenarkaden, in der Mitte ein trapezförmiges Forum, Tempel, Theater, Thermenanlagen – die Überreste davon kann man auf dem weitläufigen Areal bei einem ausgiebigen Spaziergang besichtigen. Die Stadtmauer, die Saepinum umgab, ist samt mächtigem Stadttor noch weitgehend erhalten. Anders als Pompeji, mit dem Direktor Rinaldi die archäologische Stätte gerne vergleicht, wurde das Ensemble aber nicht durch einen Vulkanausbruch konserviert. Das Gelände ist im Gegenteil bis heute bewohnt. Drei Familien leben noch in alten Bauernhäusern, die aus den antiken Steinen errichtet wurden, zwischen Tempelsäulen und Theater und auf den noch im Boden verborgenen Schätzen der Vergangenheit. Nur rund zehn Prozent der Anlage sind laut Rinaldi bisher freigelegt.

Diese einzigartige Atmosphäre lebendiger Vergangenheit lässt man am besten bei einem Picknick an einem der schönen Picknickplätze auf dem Areal auf sich wirken. Lokale Spezialitäten, die sich dafür anbieten, gibt es in der Region zur Genüge: Schinken aus dem Bergdorf Pietraroja im nahen Matese-Gebirge, Soppressata del Sannio, eine typische Salami, Ricotta-Käse, dazu Weißbrot und ein Sannio Wein. Dass die ganze Region stark landwirtschaftlich geprägt ist und es hier Weingüter mit großer Tradition gibt, macht sich auf dem Speiseplan sehr vorteilhaft bemerkbar.

So gestärkt kann man sich in der Provinzhauptstadt des Samnium, Benevento, im Museo del Sannio Fundstücke von den antiken Stätten der Samniter ansehen. Das Museum ist im ehemaligen Kloster der Kirche Santa Sofia untergebracht, die als Erbe der Langobarden in Italien 2011 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde. Die Fragmente von Säulen, Statuen und Friesen, die in den alten Klosterräumen ausgestellt sind, zeugten vom Einfluss der Griechen auf die Kultur der Samniten, erklärt Museumsdirektor Marcello Rotili. Kein Wunder. Magna Graecia, das große Reich der Griechen, reichte zur Zeit der Samniten schließlich bis an deren Siedlungsgebiete in Süditalien heran. Die Römer gewannen erst später, nach dem endgültigen Sieg über die Samniten, hier an Einfluss. Aus ihrer Blütezeit ist in Benevento noch das römische Theater erhalten. Es fasste einst bis zu 9.000 Besucher und wird auch heute noch für Aufführungen genutzt. Aus römischer Zeit stammt auch das bekannteste Bauwerk Beneventos, der Trajansbogen. Das reich mit Reliefs geschmückte alte Stadttor, erbaut 114 nach Christus, gilt als eines der schönsten Baudenkmäler Süditaliens. Und auch sonst finden sich in der Stadt noch an vielen Stellen Überreste der römischen Besiedelung. An der Via Appia gelegen, die von Rom bis nach Brindisi führte, spielte das heute eher abseits der Touristenströme gelegene Benevento damals eine wichtige Rolle.  

Wieder auf den Spuren der alten Widersacher Roms, der Samniten, bewegt man sich dann in Montesarchio, dem antiken Caudium, ein halbe Autostunde von Benevento entfernt. Das archäologische Museum in der mittelalterlichen Burg von Montesarchio zeigt viele gut erhaltene Grabbeigaben aus den Zentren der samnitischen Kultur. Besonders beeindruckt die Präsentation der bunt bemalten Vasen, deren Motive deutlich von der klassischen griechischen Kultur geprägt sind. In den ehemaligen Gefängniszellen, als die die Verliese der Burg zwischenzeitlich auch genutzt wurden, haben sie ihren großen Auftritt.

Neben Funden aus der Nekropole des antiken Caudium zeigt das Museum auch Fundstücke aus dem samnitischen Saticula, dem heutigen Sant' Agata de' Goti. Diesen Ort am Rande des Regionalparks Taburno-Camposauro sollte man auf einer Reise auf den Pfaden der Samniten durch das unbekannte Kampanien und Molise auf keinen Fall auslassen. Der Ort gehört zu den schönsten Dörfern Italiens. Wie auf einer Bühne thronen die aus Tuffstein erbauten Häuser des mittelalterlichen Dorfes auf einer Tuffsteinterrasse. Fels und Häuser scheinen zu verschmelzen. Und das tun sie auch, wie Paola Mustilli erklärt. Unter den Häusern seien weitläufige Keller in den Fels gehauen. Ihre Familie, die seit über 300 Jahren Wein in Sannio anbaut, nutzt den alten Steingewölbekeller 16 Meter unter der Oberfläche natürlich zur Lagerung ihrer Weinfässer und -flaschen. „Wein haben aber schon die Samniten hier angebaut“, erzählt Paola Mustilli. In den antiken Gräbern hätten Archäologen auch Weinfässer gefunden. Paolas Vater Leonardo Mustilli gehörte dann in den 1970er Jahren zu den Winzern, die die heimische Falanghina-Traube wieder entdeckten und den Falanghina del Sannio zum bekannten Weißwein der Region machten, der seit 2011 auch durch die Herkunftsbezeichnung DOC geschützt ist.  Nach einer Führung durch die historischen Keller kann man den Wein bei Mustilli natürlich auch probieren. Und wer dann einfach gemütlich sitzen bleiben möchte, kann ein Zimmer im Agriturismo Mustilli buchen und am Abend noch entspannt durch die Gassen des historischen Zentrums von Sant' Agata de' Goti schlendern.

Vor den Toren von Sant' Agata de' Goti lädt dann am nächsten Morgen der Regionalpark Taburno-Camposauro zu einer Trekking-Tour ein. Die beiden namengebenden Berge Taburno und Camposauro, beide knapp 1400 Meter hoch, bieten viel ungestörte Natur und noch einsame Wanderwege. Die Quellen, die hier entspringen, speisen über den Karolinischen Aquädukt sogar die Brunnen des Königspalastes von Caserta. Startet man zu einer Tour auf den Gipfel des Taburno, begegnet man gleich hinter dem Parkplatz erst einmal weißen Marchigiana-Rindern, die auf den steinigen Wiesen hier weiden. Ihr zartes Fleisch ist eine Spezialität der Region. Durch lichten Buchenwald geht es dann gemächlich bergan. Die Wälder nutzten die Bourbonen früher als Jagdgebiet, erklärt Wanderführer Eugenio Parente beim Aufstieg. Vielleicht begegnet man auf einer Lichtung kurz unterhalb des Gipfels deswegen noch heute frei laufenden Pferden. Eine fast mystische Begegnung in dem sonst einsamen Wald. Vom Gipfel des Taburno kann man dann den Blick weit in die Ferne schweifen lassen. Bei klarer Sicht sind am Horizont sogar der Vesuv und die Inseln Ischia und Capri zu erspähen. An einem lauschigen Picknick-Platz unter Schatten spendenden Baumkronen warten nach der Wanderung zur kleinen Stärkung knusprige Taralli, ein typisches Knabbergebäck der Gegend, und statt Sannio-Wein zur Abwechslung mal ein italienisches Craftbier. Der Name „Amore“ auf der kleinen Flasche passt einfach zu gut zu der idyllischen Stimmung. Und gebraut ist es ganz in der Nähe, in Frasso Telesino am Fuße des Monte Taburno. Einer der vielen kleinen, landwirtschaftlich geprägten Orte in der historischen Hügellandschaft des Samnium, wo Wein und Oliven wachsen zwischen noch unentdeckten historischen Stätten, man in kleinen Agriturismo-Unterkünften Ruhe und Abgeschiedenheit und die köstliche italienische Küche genießen kann – abseits der Touristenströme an der Amalfi-Küste.

Samnium-Ausstellung in München
In der Staatlichen Antikensammlung in München widmet sich bis 25. September 2022 eine Sonderausstellung unter dem Titel „Roms letzter Rivale“ dem Samnium und den Samniten. Die Ausstellung rückt Geschichte, Kunst und Kultur des antiken Samnium in den Blick. Mit Leihgaben unter anderem aus Benevento und Montesarchio würdigt sie die samnitische Kultur erstmals außerhalb Italiens in einer umfassenden Schau. Die Ausstellung entstand auf Anregung und in enger Zusammenarbeit mit dem italienischen Generalkonsul in München, Enrico de Agostini, dessen Familie aus dem Samnium stammt. Mehr Infos zu der Ausstellung finden Sie hier...

Über den Autor*Innen

Gabi Vögele

Gabi Vögele, geboren 1967 in Eichstätt/Bayern, arbeitete nach dem Studium von Journalistik und Geographie als Journalistin für Süddeutsche Zeitung und Abendzeitung. Seit 2005 ist sie freiberuflich als Journalistin tätig. Ihre Themen: Reisen, Outdoor-Aktivitäten, Genuss.

Draußen unterwegs sein, sich in der Natur bewegen, Landschaften entdecken, interessante Menschen treffen und einfach genießen – sei es den würzigen Bergkäse auf der Alm, das gute Glas Rotwein an einem langen Winterabend oder das überraschende Sechs-Gänge-Menü eines kreativen Kochs.